MENSCHEN 14 | | REPORTAGE | NR. 1, 29. DEZEMBER 2014 | MIGROS-MAGAZIN | Zurück ins Leben In der Berner «Wege Weierbühl» leben 14 drogensüchtige Menschen. Hier lernen sie, wieder auf eigenen Beinen zu stehen – mitsamt ihrer Abhängigkeit. Die vierstöckige «Wege Weierbühl» in Köniz: Je höher man wohnt, desto näher rückt die Aussicht, ein autonomes Leben zu führen. | MENSCHEN MIGROS-MAGAZIN | NR. 1, 29. DEZEMBER 2014 REPORTAGE | 15 E in hübsches Häuschen in einem Wohnquartier in Köniz, Bern. Eine herzige Gartenlaube, Sichtbalken in der Fassade, ein Garten. Dieses Haus beherbergt eine besondere Wohn gemeinschaft: Hier leben 14 Personen, die abhängig sind von harten Drogen. Patric (34) ist einer von ihnen. Er ist kräftig gebaut, hat dunkelblonde Haare und trägt einen roten Pulli. Er sitzt am Tisch im Essraum neben der Laube, die in den Garten führt. Er raucht, ist auf geregt, dass sich jemand für sein Leben interessiert. Seit etwa drei Jahren wohnt er hier. «Weil ich nichts anderes hatte», sagt er und zieht an seiner Zigarette. Patric hatte keine Wohnung, keinen Job. Nur die Sucht, die ihn tagtäglich begleitete. Heroin, dreckiges, auf der Strasse gekauft. «Ich wollte ins Heroin programm», erzählt er. Er wurde auf genommen und kam in die «Wege Wei erbühl». Sein Ziel: ein geregeltes Leben zu führen. Seither geht er morgens um Viertel vor acht und nachmittags um halb fünf zur Abgabestelle. Dort erhält er eine dosierte Menge Opioide: 200 Milli gramm (mg) Heroin, 20 mg Methadon. Bei Patric haben neben dem Bett ein Schrank und ein kleiner Schreibtisch Platz. «Das erste Zimmer war noch klei ner», sagt er. «Jetzt habe ich wenigstens einen Balkon.» Jeden Nachmittag geht er arbeiten, von eins bis vier nimmt er in einer Recyclingfirma Computer, Fernseher und Elektrogeräte auseinander und sortiert sie. Abends schaut er meist TV in seinem Zimmer. «Ich habe gern meine Ruhe.» An den schönsten Tag hier kann er sich gut erinnern. «Das war, als mich die ganze Familie besucht hat,Schwester, Grosi und die Eltern.» Das Wohnheim heisst zwar «Wege», ist aber viel eher Heim als Wohngemein schaft im üblichen Sinn. Die Bewohner und ein möglichst autonomes Leben zu führen. Im Haus selbst herrscht absolu tes Drogenverbot. Nicht einmal Alkohol ist gestattet. Nur rauchen darf man. Bei Jonas, dem blonden, schlacksigen jungen Mann, der gerade mal 30 Jahre alt ist und seit zwei Jahren hier wohnt, haben die Leiter vor einem Jahr eine Büchse Bier im Zimmer entdeckt. «Da haben sie mich zurückgestuft», erinnert er sich. «Das war hart: weniger Taschen geld, mehr Ämtli und eine längere Wartezeit, um in den dritten Stock zu kommen.» Im dritten Stock zu wohnen, ist gut, denn das bedeutet: Man macht sich bereit für den Austritt, für ein selbständigeres Leben, ist wohnkom petent, schafft es, ohne Nebenkonsum «Hier ist es gut: Ich bin nicht mehr auf der Strasse» Seine Augen wirken schläfrig. Patric war 18, als sein Leben zusammenbrach. Schwerer Autounfall, doppelter Schä delbasisbruch, Hirnblutung. In der Reha lernte er wieder zu sprechen und zu laufen. Ansonsten war nichts mehr wie vorher. «Sie sagten mir, ich sei ganz anders als früher.» Schmerzen, Konzen trationsschwäche, Vergesslichkeit. «Ich konnte nichts lernen, nichts blieb mir.» Irgendwann kam in seiner Kranken geschichte paranoide Schizophrenie dazu, mit 20 war er ein 100prozentiger IVFall. Er drückte seine psychischen und physischen Schmerzen mit Drogen weg: Kiffen, dann Heroin. «Hier ist es gut: Ich bin nicht auf der Strasse», sagt Patric. «Es ist immer jemand da, mit dem du reden kannst.» Er hat auch seine klaren Aufgaben. Er zeigt den Ämtliplan, der an der Pinn wand neben dem Esstisch hängt. «Ein mal pro Woche hat jeder das Tagesämtli: abwaschen nach dem Abendessen, den Essraum aufräumen, putzen und in Ord nung halten. Und heute muss ich die Toilette auf unserem Stock putzen.» Im Parterre befinden sich Aufent haltsraum, Küche und Sozialarbeiter büro. Im ersten und zweiten Stock sind je sechs Zimmer untergebracht, im Dachstock zwei weitere – erstaunlich viele, dementsprechend klein sind sie. Lebensmathematik: Dieses Poster hängt im Zimmer des 30-jährigen Jonas, der sich bereit macht für den Austritt. sind nicht fähig, ein komplett auto nomes Leben zu führen, und brauchen klare Strukturen,tägliche Unterstützung und Betreuung. Anders als in therapeu tischen Einrichtungen für Drogen abhängige ist diese hier nicht auf Abstinenz ausgerichtet. «Die Bewohner erhalten fast alle Methadon oder Heroin», erklärt Barendjan van Harskamp (54). Der Sozialpädagoge und Familien und Systemtherapeut mit dem sympathischen holländischen Akzent führt das Haus seit vier Jahren. In der «Wege Weierbühl», finanziert durch die Stiftung Sinnovativ in Köniz, leben derzeit elf Männer und drei Frauen im Alter von 25 bis 61 Jahren. «Die meis ten gehen während des Tages arbeiten, in Werkstätten oder Sozialbetrieben», sagt van Harskamp. Wie lange die Bewohner hier bleiben, ist individuell. Ziel ist es, mit der Sucht leben zu lernen durch den Alltag zu kommen und einer geregelten Arbeit nachzugehen. Mittler weile wohnt Jonas im dritten Stock. Er war etwas über 20, als er mit Drogen begann. Er hatte Philosophie und Psy chologie studiert und 1000 Fragen an die Welt, die ihm niemand beantworten konnte. «Ich zog mich in meine Traum welt zurück», erinnert er sich. «Ich hatte zwar eine eigene Wohnung, ver wahrloste aber. Das habe ich mit Alk und Gras kompensiert.» Eines Abends bot ihm ein Dealer Heroin an. Er rauchte es, ihm wurde wohlig warm. «Es ging mir seit Langem wieder richtig gut.» Bald hatte ihn die Sucht im Griff. Heute erhält er in der Abgabestelle täglich eine Tablette Diaphin mit dem Inhaltsstoff Diacetylmorphin, dem che mischen Begriff für Heroin. Etwas vom Besten, was er hier machen konnte, war das Schreibprojekt der «Wege» im Jahr MENSCHEN 16 | | REPORTAGE 2013: Er ist einer der vier Autoren des soeben erschienenen Buchs «Verfixt & zugedröhnt». Nun hofft er, etwas mit Schreiben machen zu können. Und auch wenn es Momente gibt, die Jonas in der «Wege Weierbühl» Mühe bereiten – mit den zusammengewürfelten Leuten, mit der Strenge des Teams –, so ist ihm stets bewusst: «Am meisten Mühe habe ich mit mir selbst.» Dass hier kein Druck herrscht, drogenfrei zu leben, empfindet er als sehr angenehm: «Das ist doch vernünftig: Druck von aussen bringt eh nichts.» Er weiss das nur zu gut. Seinen ersten Entzug hatte er auf Druck seiner Eltern gemacht. So gut sie es meinten, so kurzlebig war die Wirkung: Der Sohn war schnell wieder auf Drogen. Die folgenden, aus freien Stücken auf gesuchten Langzeittherapien waren hingegen nachhaltiger. | baut. Dieses Arbeitsangebot ist vor 20 Jahren aus der «Wege» entstanden. Ein damaliger Praktikant fand, dass die Bewohner unbedingt Jobs brauchten. Heute ist es ein erfolgreiches Sozial unternehmen mit 70 Mitarbeitern. Dass er hier von aussen keinen Druck spürt, erleichtert Klaus, von der Droge wegzukommen. «Niemand sagt, es tut dir nicht gut, wenn du kiffst.» Er ist im Methadonprogramm und konnte von 160 mg schon auf 30 mg reduzieren. Dereinst möchte Klaus wieder in einer eigenen Wohnung leben können. Doch vorerst ist es gut hier. Er mag das gemeinsame Essen am Abend, das Zu sammensein, auch wenn jeder danach in sein Zimmer geht. Und: «Es ist immer NR. 1, 29. DEZEMBER 2014 | MIGROS-MAGAZIN | Vertrauen, das sie mir geben.» Die schwierigen Biografien und Probleme, die hier zum Alltag gehören, nimmt sie pragmatisch. «Ich habe nicht den Anspruch, dass sie aus den Drogen raus kommen. Ich habe den Anspruch, im Moment für sie da zu sein und ihnen zuzuhören», erklärt sie. Die «Wege Weierbühl» hat sich in ih rem 25jährigen Bestehen gut im Quar tier eingebettet und wird akzeptiert. Aber: «Wir finden kaum Wohnungen für Bewohner, die bereit wären, auszutre ten», sagt Barendjan van Harskamp. «Es ist ja klar, dass sie auf normalem Weg kaum eine Wohnung kriegen. Wie auch? Sie haben Schulden, Betreibungen.» Sein grösster Wunsch ist es deshalb, ein 1 Jonas hat in der «Wege» am Buch «Verflixt & zugedröhnt» mitgeschrieben. Seither träumt er von einer Zukunft als Schreibender. 2 Klaus mag die familiäre Atmosphäre im Haus und arbeitet in einem Sozialunternehmen gleich ums Eck. 3 Winziges Zimmer, grosser Fernseher: Den konnte sich Patric mit Unterstützung seines Grosis leisten. Im Haus selbst darf niemand Drogen oder Alkohol konsumieren «Kein Mensch ist freiwillig drogensüch tig», erklärt Barendjan van Harskamp. «Niemand sagt: ‹Ich werde drogen abhängig, das fägt.› Und wir können nicht von ihnen erwarten, dass sie ein fach so damit aufhören.» Er bringt den sinnigen Vergleich mit dem Schwim men: «Wenn ich nicht schwimmen kann und mich jemand ins Wasser wirft und sagt: ‹Schwimm!›, dann kann ich das nicht plötzlich. Das ist mit dem Auf hören in der Sucht genauso.» Das Kon zept, nicht auf Abstinenz ausgerichtet zu sein, ist für ihn sehr sinnvoll: «Es gibt Menschen, die probieren xfach, von den Drogen loszukommen, doch es geht einfach nicht. Hier haben sie das Recht, drogenabhängig zu sein, sie haben aber auch die Pflicht, keine Drogen im Haus zu konsumieren.» Die Regeln sind klar und streng: keine Drogen, keine Gewalt. Auch verbale Ag gressionen führen zu einer Verwarnung. Beim zweiten Mal ist man draussen. Jeder muss sein Ämtli erfüllen, jeden zweiten Mittwoch gibt es die obligato rische Sitzung mit allen. Ansonsten sind sie frei: Frühstück und Mittagessen nehmen sie individuell ein, es hat immer etwas im Kühlschrank. Zwischen sechs und halb sieben gibt es Abendessen. Es gibt keine Anwesenheitspflicht, eine warme Mahlzeit pro Tag schätzen aber die meisten. Und so sind zum Znacht oft alle da. Um Viertel vor zwölf schliesst das Haus seine Türen bis am Morgen früh. Klaus (47) ist ganz frisch hier. Er arbeitet bei Gump und Drahtesel, einer Werkstatt, die ausgediente Fahrräder zu funktionstüchtigen Velos zusammen Bilder rechte Seite: 4 Sozialarbeiterin Gina ist seit einem Jahr in der «Wege Weierbühl» ‒ für sie ein Traumjob. Blick in die Agenda von Jonas – ein Symbol für den Weg zurück ins Leben. Der regelmässige Zimmerputz gehört zum Alltag in der «Wege». jemand da, mit dem ich sprechen kann.» Denn alle 14 Bewohner haben eine indi viduelle Bezugsperson, die sich um sie kümmert. Es ist stets ein Sozialarbeiter vor Ort, und in der Nacht eine Nacht wache. Bei den Gesprächen geht es um Alltägliches wie Beziehungen, den Tagesablauf, um Arbeit und die Unter stützung, die sie brauchen. «Die Sucht ist nur ein Teil der Bewohner», erklärt Barendjan van Harskamp. «Ansonsten sind sie Men schen wie wir, mit ihren Problemen, Träumen und Nöten, wie wir sie alle kennen.» Und mit Träumen, die oft bürgerlicher nicht sein könnten: Viele wünschen sich ein eigenes Haus – am liebsten eine Villa mit Swimmingpool, eine Kleinfamilie, zwei Autos. Heute hat Sozialarbeiterin Gina Canal (26) Frühschicht. Sie mag die Arbeit hier. «Es kommt viel zurück. Ich schätze das Haus zu kaufen, dessen Wohnungen er an ehemalige «Wege»Bewohner ver mieten kann. Dort würden regelmässig Betreuungspersonen vorbeischauen. So kompliziert und vielschichtig das Thema Drogensucht in unserer Gesell schaft auch ist: Die «Wege Weierbühl» gibt den Abhängigen eine gute Chance, etwas Halt in ihr Leben zu bringen. Text: Claudia Langenegger Bilder: Daniel Auf der Mauer www.migrosmagazin.ch LESEN SIE ONLINE Den Ausstieg geschafft Eine betreute Wohnform ist nur der erste Schritt. Mehrere ehemalige Abhängige schildern ihren Weg aus der Sucht. | MENSCHEN MIGROS-MAGAZIN | NR. 1, 29. DEZEMBER 2014 | 1 2 3 4 | REPORTAGE | 17 | MENSCHEN MIGROS-MAGAZIN | NR. 1, 29. DEZEMBER 2014 | | AUF EIN WORT | 19 FRAU DES JAHRES Mutiger Einsatz Man sieht die andern gern leiden: Das «Eiswasser über den Kopf giessen» war der Facebook-Trend 2014. DAS JAHR IN DEN SOZIALEN NETZWERKEN «Bad News sind auf Social Media weniger gefragt» Warum die Jungen Facebook nicht mehr so stark nutzen, sich 2014 aber trotzdem eiskaltes Wasser über den Kopf kippten, erklärt Social-Media-Kenner Konrad Weber. Bilder: Keystone (2), SRK, zVg Konrad Weber, was war 2014 das herrschende Element auf Social Media? untergang postet man nicht mehr automatisch auf Facebook, sondern vielleicht auf Instagram oder teilt es per Whatsapp. Ganz klar die Selfies. Das Selfie von der Oscar-Verleihung zum Beispiel ist das am meisten auf Twitter verbreiEin lästiger Facebook-Trend tete Bild überhaupt. In war die «Ice-Bucket-Chalder Schweiz war das Bild lenge», bei der Menschen von der Bundesratreise Konrad Weber (25) sich kübelweise Eiswasser über den Kopf gossen. sehr beliebt. Durch ist MultimediaWieso haben so viele mitSocial Media sind die Journalist bei Leute greifbarer gewor- SRF. gemacht? den. Vor ein paar Jahren Einerseits war das sicher wäre es nicht vorstellbar gewesen, ein typisches Gafferphänomen: dass die Bundesräte einfach zum Man schaut zu, wie andere leiden. Spass ein spontanes Foto schiessen. Zum anderen wäre der Trend sicher Wir haben 2014 aber auch gesehen, nicht so rumgegangen, wenn man dass Smartphone-Bilder Gefahren nicht seine Freunde hätte weiterbergen. Spätestens seit der Geri- nominieren müssen. Müller-Affäre wird die Frage nach Privatheit und Öffentlichkeit ver- Das meistgebrauchte Social-Mediamehrt diskutiert. Wort 2014? Das ist wohl der durch die MassenIst die Facebook-Nutzung bei den Jun- einwanderungs-Initiative erfungen eigentlich immer noch rückläufig? dene und durch Ecopop wiederaufEs ist sicher noch die Plattform, genommene «Dichtestress». mit der man die meisten Leute er reicht. Allein in der Schweiz gibt es Welches Youtube-Video kam bei den drei Millionen Konten. Vielleicht Schweizern gut an? wird es aber nicht mehr so exzessiv Das am meisten geschaute Video genutzt, zudem hat sich alles auch hat ein Pole gedreht. Es geht um auf andere Plattformen verteilt. einen als Spinne verkleideten Das Abendessen oder den Sonnen- Hund, den «Mutant Giant Spider Dog», der die Leute erschreckt. Das Video hatte weltweit 120 Millionen Klicks. Der Erfolg ist relativ einfach erklärbar: Beim Video handelt es sich um einen Scherz, bei dem man erschrickt und trotzdem lacht. Um drei Tage Bedenkzeit hat Sabine Hediger (45) aus Oberkirch LU gebeten. Mit dem Einverständnis ihrer vier Kinder und ihres Manns sagte sie dem Schweizerischen Roten Kreuz zu. Drei Wochen kämpfte sie in Sierra Leone gegen Ebola: Die Hebamme und Pflegefachfrau kümmerte sich um infizierte Patienten, schulte das lokale Personal und half mit, ein Feldspital aufzubauen. Mit ihrem mutigen Einsatz steht sie stellvertretend für die humanitäre Hilfe der Schweiz. MANN DES JAHRES Souveräner Auftritt Die Fussball-WM 2014 war bei Google das Trendthema. Was wird nächstes Jahr für virale Effekte sorgen? Ein so grosses Sportereignis wird es 2015 nicht mehr geben. Aber die nationalen Wahlen werden sicher viel Aufmerksamkeit generieren. Was war 2014 Ihre Lieblingsstory? Eine konkrete Geschichte fällt mir nicht ein. Mir ist aber aufgefallen, dass Bad News wie die UkraineKrise oder Ebola auf Social Media weniger gefragt sind. Die Menschen suchen nach Aufstellern, nach konstruktiven Ansätzen. Ihr grösster Aufreger? Die Selfies im Bundeshaus. Da wurde viel hochgekocht, obwohl es nicht relevant ist. Leider verstärken solche Artikel den Vertrauensverlust der Leser in die gesamte Medienbranche. Interview: Silja Kornacher Lesen Sie auf Seite 67, welche Rezepte 2014 am meisten gegoogelt wurden. Er hat den Spagat zwischen Aussenminister, Bundespräsident und Vorsitzendem der OSZE geschafft. Mehr als 30 Reisen hat FDP-Bundesrat Didier Burkhalter (54) dieses Jahr gemacht, unzählige Hände geschüttelt. Als Vermittler im Ukraine-Konflikt und bei der Annäherung an die EU spielte er eine wichtige Rolle. Der Neuenburger ist aktuell der Politiker mit dem grössten Rückhalt bei den Schweizern, wie eine repräsentative Umfrage der «Sonntagszeitung» zeigte. MENSCHEN 20 | | PORTRÄT | NR. 1, 29. DEZEMBER 2014 | MIGROS-MAGAZIN | 1 Meter 80 hoch darf eine Tischbombe maximal fliegen. Maurice Regel sorgt mit Hilfe seiner Testabschussrampe für das Einhalten dieser EU-Norm. | MENSCHEN MIGROS-MAGAZIN | NR. 1, 29. DEZEMBER 2014 | | PORTRÄT Architekt der guten Laune Explodiert an Silvester eine Tischbombe, weiss Maurice Regel auf das letzte Bölleli genau, was einem gleich um die Ohren fliegen wird: Der Aargauer ist Tischbombenkreateur. K awumm!» Zwei Sekunden Stille, dann ein «Plop-plop-plop». «Keis guets Föteli, gell?» Maurice Regel (55) blickt hoffnungsvoll zum Migros-Magazin-Fotografen René Ruis. «Hm», brummt dieser, während er auf das Display seiner Kamera starrt, «vielleicht könnten wir ja noch einmal …?» Doch da hat Regel bereits die nächste Tischbombe gezündet: «Kawumm!» Zwei Sekunden Stille, dann ein «Plopplop-plop». Es riecht nach Schwefel. Schinznach Dorf AG, 1699 Einwohner, fünf Beizen, eine Baumschule mit eigener Dampflokbahn – und die Constri AG, der einzige Tischbombenhersteller der Schweiz. 500 000 Tischbomben made in Schinznach Dorf landen jedes Jahr in den Verkaufsregalen, auch in der Migros.500 000 Tischbomben,bestückt mit 50 bis 70 Tonnen Partyartikeln, womit wir wieder bei Maurice Regel wären. «Marketing/Verkauf/Prokurist» steht auf seiner Visitenkarte. Was zwar alles zutrifft, aber keineswegs umschreibt, was der Mann tatsächlich tut. Tischbombenkreateur wäre viel treffender oder: Partyknaller. Immerhin verantwortet er seit bald 20 Jahren, was bei vielen Schweizern an Silvester explodieren wird. Heidi und Fussball – Inspirationen finden sich überall Und das soll vor allem fesseln, und zwar möglichst lang. Deshalb entwirft Maurice Regel nicht einfach Tischbomben, sondern Tischbombenpartys: Piratenparty, Girl Party oder Fussballparty heissen seine Kreationen, Ingredienzien sind Augenklappen und Gummiskelette, Klunkerringe und Plastikpferdchen, Minifussbälle und Trillerpfeifen – und natürlich immer und überall die unsäglichen, mit einem Blasrohr zu verschiessenden bunten Papiermachébölleli. Gerade tüftelt er an einer Moustache Party. Details will er keine nennen, die Konkurrenz, die sich vor allem in Fernost tummelt, schläft nicht. Inspiration für seine Partyartikel mit Knall findet der Tüftler überall: an internationalen Spielzeugmessen und auf Reisen, auf den Laufstegen der Haute eine mit Nitroglyzerin angereicherte Baumwollfaser, auch Schiessbaumwolle genannt. Ihr grosser Vorteil gerade in geschlossenen Räumen: Sie entwickelt wenig Rauch. Weshalb sie übrigens auch zum Auslösen von Autoairbags verwendet wird. Tischbomben werden mit 0,7 bis 2 Gramm Nitrozellulose scharf gemacht, je nach Bestückung. Einmal gezündet, drückt der dabei entstehende Stickstoff den Inhalt aus der Röhre. Angeliefert wird die Nitrozellulose in feuchtem Zustand. Um eine statische Aufladung und damit eine Entzündung zu vermeiden, stehen die Arbeitstische für die Montage auf Metallplatten. Aus demselben Grund sind in der Produktionshalle der Constri AG auch keine Handys erlaubt. Das Gefährlichste überhaupt ist das Zündhölzli Jede Tischbombe wird in Handarbeit und gemäss ihrem jeweiligen Motto gefüllt. Couture, aber auch im Internet. Hier sind Filmtrailer gute Quellen: «Pirates of the Caribbean» vor ein paar Jahren etwa, oder aktuell der neue «Heidi»-Film, der 2016 in die Kinos kommt. Details zur Alpenparty-Tischbombe will er ebenfalls keine nennen – die Konkurrenz! Maurice Regel lässt seine neusten Einfälle gern von Freunden und Bekannten testen. Keine Einladung, bei der er nicht mit zwei, drei Tischbomben unter dem Arm erscheint. Jahrelang gehörten auch seine Töchter zum Testteam. Unterdessen passen sie. «Mit 24 respektive 25 Jahren zählen sie momentan nicht zum klassischen Zielpublikum», tröstet sich der Vater. Dieses liege bei 5 bis 12 Jahren und wieder bei 30 plus, «dann, wenn die Leute selber Kinder haben». Verkaufshit Nummer 1 der Schinznacher ist folgerichtig denn auch seit Jahren das Modell Kinderparty. Eine Tischbombe ist ein simples Ding: unten ein Kunststoffboden, oben ein Kunststoffdeckel, dazwischen eine Kartonröhre, von Hand mit dem entsprechenden Equipment befüllt. Für den nötigen Auftrieb sorgt Nitrozellulose, Migrosmagazin.ch ONLINE Spassmaterial Tischbomben sind wahre Wundertüten. Ein kleiner Überblick über alles, was an Silvester so in die Luft geht. 1 Meter 80 darf eine Tischbombe gemäss EU-Vorgaben maximal abheben. Um dies zu gewähren, steht draussen auf der Laderampe der Constri AG eine Art Testabschussrampe mit Höhenskala. Pro 1000 Tischbomben wird hier ein Exemplar aus der laufenden Produktion gezündet. Zwei bis maximal fünf Sekunden darf es bis zum «Kawumm» dauern. Doch auch all das verschossene Spassmaterial muss den Sicherheitsanforderungen an Spielzeug entsprechen, hat beispielsweise speichelfest zu sein und darf auch keinen Weichmacher enthalten. Über 150 verschiedene Inhaltsartikel sind zurzeit an Lager, und jeden Monat trifft ein weiterer Schiffscontainer ein. Sind Tischbomben – anders als der explosive Name impliziert – also harmlos? Maurice Regel lacht. Gefährlich sei höchstens das Zundhölzli: «Damit kann man sich nämlich die Finger verbrennen!» Zwei Tipps zur korrekten Handhabung hat er dann aber doch noch: Zum einen sollten Tischbomben – Name hin oder her – auf dem Boden (1 Meter 80!) gezündet werden. Zum anderen empfehle es sich nicht, sie im feuchten Keller zu lagern. «Sonst gibts nämlich höchstens ein Mini-Kawumm!» Text: Almut Berger Bilder: René Ruis | MENSCHEN MIGROS-MAGAZIN | NR. 1, 29. DEZEMBER 2014 | | PORTRÄT | 23 Fair-TradePionierin Ursula Brunner verfolgt noch heute aufmerksam, was in der Welt des Handels abläuft. «Ich bin eine zähe Wurzel» Ursula Brunner kämpfte mit den «Bananenfrauen» schon für fairen Handel, als es den Begriff «Fair Trade» noch gar nicht gab. Dieser Tage wird sie 90 Jahre alt, altersmilde ist sie nur ein wenig. M it der Migros fing alles an, damals. Und mit «Bananera Libertad»: Der Schweizer Dokumentarfilm zeigte auf, was der günstige Preis von Bananen hierzulande mit der Armut von Arbeitern in Zentralamerika zu tun hat. Es war das Jahr 1973, und die Frauen waren in der Schweiz erst seit zwei Jahren stimmberechtigt. Die Frauenfelder Pfarrersgattin Ursula Brunner war bereits Mutter von sieben Kindern, pflegte ein offenes, solidarisches Haus, wie sie es von ihren Eltern her kannte und «wie es zu meinem Bild einer Pfarrersfrau passte». Über eine Bekannte wurde sie auf das Bananenthema aufmerksam. Es sollte ihr weiteres Leben beherrschen – bis heute. Es ist ein warmer Dezembertag kurz vor Weihnachten und auch kurz vor ihrem 90. Geburtstag. Ursula Brunner bittet in ihrer Wohnung im reformierten Kirchgemeindehaus mitten in Frauenfeld an den Stubentisch, an dem sie und die anderen Bananenfrauen einst ihre nächsten Schritte beraten haben. Ihre hellen Augen fokussieren auf das Gegenüber, die Gedanken und Worte sind schnell und präzise. Man traut ihr locker zu, in einer «Arena»-Sendung alle an die Wand zu argumentieren – vor allem, wenn es ums Thema fairen Handel geht. Brunner und weitere Frauen schrieben der Migros einen Brief Die Geschichte mit der Migros erzählt Ursula Brunner genüsslich. Sensibilisiert durch den Dokumentarfilm von Peter von Gunten traute sie ihren Augen nicht, als die Genossenschaft 1973 in einem Inserat mitteilte, dass sie den ohnehin schon günstigen Bananenpreis noch mehr senken werde, von Fr. 1.50 pro Kilo auf nur noch Fr. 1.35. Die Migros sprach von einem Geschenk an die Kunden, nannte die Preisreduktion «das Bananenwunder» und begründete dieses mit dem Fall des Dollarkurses. Für Brunner und weitere sensibilisierte Frauen in Frauenfeld war klar: «Das stimmt nicht, das ist kein Geschenk an die Kunden! Das ist Geld, das den Leuten in den Plantagen fehlen wird, die für weniger Geld mehr arbeiten müssen.» Sie beschlossen, der Migros einen Brief zu schreiben, einen Appell, die 15 Rappen auf den Bananen zu belassen und die 10 Millionen «Gewinn» am Ende des Jahres in ein Bananen produzierendes Land zu schicken, zugunsten MENSCHEN 24 | | PORTRÄT | NR. 1, 29. DEZEMBER 2014 | MIGROS-MAGAZIN | «Es kann doch nicht sein, dass wir Reichen sogar mit dem Label des fairen Handels an den Armen verdienen.» 1977: Ursula Brunner (ganz links) und weitere engagierte «Bananenfrauen» beratschlagen, wie sie den Handel mit Bananen fairer machen könnten. 1973: Eine Öffentlichkeitskampagne trägt Früchte. eines sozialen Projekts, etwa zum Bau eines Spitals oder eines Schulhauses. Die Migros antwortete, man sei keine Wohltätigkeitsinstitution, sondern ein Unternehmen. Und in einem Artikel im «Brückenbauer» schrieb Migros-Vizepräsident Pierre Arnold, er verkenne die guten Absichten der Frauen nicht, aber sie würden keine Probleme lösen. Das war lange, bevor in der Migros die erste Max-Havelaar-Banane verkauft wurde und somit die erste aus fairem Handel, wie sie heute in jeder Filiale angeboten wird. «Women’s Business Award 2014», verliehen von der Hochschule Luzern. Das waren späte, aber wichtige Anerkennungen für die Thurgauerin, die ihr ganzes Erwachsenenleben dem Engagement für eine gerechtere Welt gewidmet hat. «Heute», bedauert sie, «können sich Frauen kaum noch freiwillig und unentgeltlich für Gerechtigkeit und die Allgemeinheit einsetzen. Sie müssen bereits Familie und Arbeit bewältigen, da bleibt kaum noch Zeit für etwas anderes.» Die Pionierin des fairen Handels, die sich als «zähe Wurzel» bezeichnet, ist diesbezüglich aber kaum altersmilde geworden. «Dieses System ist in unseren Köpfen entstanden und nicht bei den Produzenten, denen es zugutekommen sollte.» Sie wünscht sich, dass die Leute bei uns zu niedrigeren Löhnen im fairen Handel arbeiten würden, «weil es doch nicht sein kann, dass wir Reichen sogar unter dem Label des fairen Handels an den Armen verdienen». Dennoch: «Gerechtigkeit ist ein Prozess», sagt Ursula Brunner. «Wichtig ist, dass wir uns darauf hinbewegen. Und dass wir erkennen, dass kein Schritt zu klein ist, um ihn nicht zu machen.» Bilder: zvg Das Engagement von Frauen galt damals als reichlich exotisch Nicht nur war politisches Engagement von bürgerlichen Frauen zu jener Zeit reichlich exotisch, man traute insbesondere Müttern und Hausfrauen auch schlicht nicht zu, wirtschaftliche Zusammenhänge zu verstehen. Zusammen mit den anderen Frauen fing sie an, den (Bananen-)Handel zu studieren. Bald verstand sie in aller Klarheit, was sie störte (und bis heute stört): «Dass wir Reichen billige Ware bei armen Leuten einkaufen, ist ein Affront, de facto bedeutet es, dass wir Reichen auf Kosten dieser Armen leben.» Im Herbst 1973 zogen die Frauenfelder Bananenfrauen mit 600 Kilogramm Bananen in Leiterwagen, mit Plakaten, einer eigenen Zeitung und begleitet von den Medien durch Frauenfeld, um den 1994: Ursula Brunner mit einer Delega tion der Finca Baltimore aus Costa Rica im Volg Wiesendangen ZH. Leuten zu sagen, welchen Unterschied 15 Rappen pro Kilo Banane für das Leben der Bananenarbeiter macht. Die Aktion war erfolgreich, die Botschaft schlug landesweit ein. Schliesslich reiste Ursula Brunner ab 1976 jedes Jahr in die Bananen produzierenden Länder Zentralamerikas. Sie sah die Armut aus nächster Nähe. «Unser Traum war, dass die Arbeiter für die Bananen einen Lohn erhalten, von dem sie leben können.» Ein schwieriges Unterfangen, wo doch der ganze Bananenmarkt von drei US-Unternehmen beherrscht war. Aber sie erkämpfte sich Zugang zu höchsten Regierungskreisen und fand Verbündete auch bei europäischen Früchtegrosshändlern. Sie gründete die Gebana AG mit, eine weltweit tätige Fair-Trade-Organisation, die es heute noch gibt. Und sie wurde mit Preisen bedacht, kürzlich etwa mit dem Text: Esther Banz Bild: Ursula Meisser Unter www.migros.ch/de/supermarkt/max-ha velaar/unser-beitrag.html erklärt die Migros am Beispiel Banane, was fairer Handel ist. MENSCHEN 26 | | INTERVIEW Armee- und Sportminister Der frühere SVPParteipräsident Ueli Maurer (64) sitzt seit Januar 2009 als Vorsteher des Departements für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS) im Bundesrat. Unter der Woche lebt er in Münsingen BE, ansonsten in Wernetshausen ZH. Maurer ist verheiratet und hat vier Söhne und zwei Töchter. «Wir werden mit der EU eine Lösung finden, weil beide eine brauchen.» | NR. 1, 29. DEZEMBER 2014 | MIGROS-MAGAZIN | | MENSCHEN MIGROS-MAGAZIN | NR. 1, 29. DEZEMBER 2014 | | INTERVIEW | 27 «Die Schweiz will wieder mehr selbst bestimmen» Bundesrat Ueli Maurer zieht trotz Gripen-Absturz eine positive Jahresbilanz. Der Armeeminister über die Bedrohungslage der Zukunft, das Verhältnis zur EU, die Polarisierung im Volk und seine Vorsätze für 2015. Ueli Maurer, wie war Ihr Jahr 2014? Erfreulich ist, dass alle wichtigen Projekte des Departements auf Kurs sind: das Nachrichtendienstgesetz, die Weiterentwicklung der Armee, die Sportkonzepte. Ein Höhepunkt war für mich die Teilnahme bei den Olympischen Spielen in Sotschi. Nicht so ins Bild gepasst hat die Gripen-Abstimmung. Das war der Tiefpunkt des Jahres? Ich würde schon sagen. Und Ihr persönliches 2014? Ein gutes Jahr! Ich hatte wieder etwas Zeit, um Sport zu treiben – das ist immer mein Massstab für den Ausgleich neben der Arbeit. Was für Sport treiben Sie? Im Winter Langlaufen, im Sommer Velofahren, und ab und zu eine Hochgebirgstour. Im Moment ist es leider wettermässig ziemlich trostlos, ich würde schon lange gerne in den Schnee. Für die Schweiz war es ja ein ziemlich aufwühlendes Jahr. Wie geht es ihr nun nach dem Ja gegen die Masseneinwanderung (MEI) und dem Nein zu Ecopop? Das Abstimmungsresultat zur MEI zeigt, dass die Schweiz auf dem Weg zu mehr Selbstbewusstsein und mehr Eigenständigkeit ist. Sie will wieder mehr selbst bestimmen und ist bereit, dafür auch gewisse Risiken in Kauf zu nehmen. Dann erwarten auch Sie Wohlstandsverluste, falls sich wegen der MEI-Abstimmung die Bilateralen am Ende nicht halten lassen? Meiner Meinung nach ist die EU genauso auf die Bilateralen angewiesen wie die Schweiz. Sie braucht die Durchfahrtsrechte, und sie ist froh um die drei Millionen Menschen, die Schweizer Unternehmen in der EU beschäftigen. Sie hat kein Interesse, das aufzugeben. Man muss die Verträge vielleicht einfach neu ordnen.Bei der Personenfreizügigkeit ist das heikel, weil es innerhalb der EU ja die gleichen Diskussionen gibt. Wenn man der Schweiz nachgibt, kommt England auch und will dasselbe. Genau deshalb wird die EU kaum zu Konzessionen bereit sein. Vielleicht eskaliert es jetzt noch ein bisschen, aber irgendwann werden wir eine Lösung finden, weil beide eine Lösung brauchen. Wir sind für die EU immerhin der zweitwichtigste Handelspartner. heute von Leuten, die wenig begeistert waren vom Ja, jetzt aber finden, das solle gefälligst korrekt umgesetzt werden. Eine nochmalige Abstimmung käme genau gleich heraus, vermutlich sogar mit einem noch deutlicheren Ja. MEI und Ecopop haben eine enorme gesellschaftliche Spaltung der Schweiz offenbart. Wäre es denn ein Problem, wenn die Schweiz die Bilateralen nicht mehr hätte? Diese Spaltung gibt es seit dem Nein zum EWR 1992 und ist seither ungelöst. Obwohl inzwischen eine Generation weggestorben ist und rund 600 000 Menschen neu eingebürgert wurden und abstimmen, hat sich am Resultat wenig verändert. Es ist auch nichts Schlechtes, solche Fragen zu diskutieren. Man kann sie halt einfach nicht final bereinigen, weil dann die eine oder andere Seite frustriert sein wird. Der Status quo entspricht der Situation am besten. Gehen Sie nach Brüssel zum Verhandeln? Das hatten Sie ja nach dem Ja zur MEI angeboten. Bei Ecopop hatte man den Eindruck, dass sogar die SVP sich Sorgen machte, die Initiative könnte durchkommen. War das der Auslöser mehrerer klarer Voten der Parteispitze? Wir brauchen ein gutes, geregeltes Verhältnis mit den wichtigen Handelspartnern – mit der EU ebenso wie mit China und anderen. Aber es gibt viele Möglichkeiten, das Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU zu regeln. Ich würde gerne, aber man lässt mich nicht! (lacht) Wer lässt Sie nicht? Der Bundesrat? Es steht einfach nicht zur Diskussion. Was halten Sie von der Gegen-Initiative «Raus aus der Sackgasse», die das Ja zur Masseneinwanderungsinitiative durch das Volk umstürzen lassen will? Dahinter stehen Gewerkschaften und Wirtschaftsverbände, die ein paar Intellektuelle vorschieben. Ich finde, die Initiative drängt sich nicht wirklich auf, aber das Volk wird dann schon richtig entscheiden. Denken Sie, ein Teil der Bevölkerung wollte im Februar mit der MEI nur ein Signal senden und ist dann erschrocken, was das Ja für Konsequenzen hat? Am Anfang, als alle den Weltuntergang beschworen haben, schien es so. Aber das hat bereits wieder gedreht. Ich höre Ich habe mich immer gegen Ecopop ausgesprochen, ebenso wie andere SVP-Exponenten. Es war also keine konzertierte Aktion? Nein, es gab keine Absprachen. Hat Sie das klare Nein überrascht? Ich habe immer mit einem Nein gerechnet, aber nicht mit so einem wuchtigen. Waren Sie persönlich enttäuscht über die Ablehnung der Gripen-Kampfjets? Ja, natürlich. Aber man muss die Armee als Gesamtpaket anschauen, der Gripen war ein Teilprojekt davon. Und das Gesamtpaket ist auf guten Wegen. Sie wirkten unmittelbar nach der Abstimmungsniederlage erstaunlich gelassen. Ich politisiere schon so lange und habe dabei vermutlich mehr Niederlagen als Siege erlebt. Das gehört dazu. MENSCHEN 28 | | INTERVIEW | Aber die Bedrohungslage hat sich nun mal verändert – wir leben nicht mehr in der Zeit des Kalten Kriegs. Seit der UkraineKrise scheint das Bewusst sein für Bedrohungen in der Bevölkerung wieder zu steigen. Vor allem bei Journalisten hat die UkraineKrise einiges ausgelöst. Im Frühling haben sie noch gelacht und fanden, die Armee sei viel zu gross. Heute fragen sie ängstlich, ob sie notfalls reichen würde. Und, würde sie? Ja. Eine klassische militärische Bedro hung mit Panzern und Flugzeugen kann man für die nächsten Jahre in West europa eher ausschliessen. Hingegen besteht ein Risiko für Anschläge auf Infrastrukturen und für Streit über Res sourcen wie zum Beispiel Energie. Wenn wir plötzlich aus irgendwelchen Grün den zu wenig Strom haben, hätten wir innerhalb einer Woche ein grosses Chaos. Und dann bräuchte es sehr rasch die Armee, die Infrastrukturen schützt und der Bevölkerung hilft. Wie hat sich die Bedrohungslage mit dem Entstehen von religiösen Terrorgruppen wie dem Islamischen Staat verändert? Und wie schützt man sich davor? «Eine Bedrohung mit Pan zern und Flugzeugen kann man für die nächsten Jahre aus schliessen.» Was müssen Sie bei der nächsten Kampfjet abstimmung besser machen? Es gibt sicherlich ein Dutzend Gründe, weshalb Einzelne Nein gestimmt haben. Wenn man eine Abstimmung gewinnen will, müssen wichtige Partner die Füh rung übernehmen, etwa die bürgerlichen Parteien. Das ist beim Gripen nicht wirklich passiert. Nächstes Mal müssen wir also vor allem sie besser überzeugen. Die «NZZ» hat Sie für Ihr Armeekonzept als «mutigen Reformer» gepriesen. Welche Ele mente würden Sie besonders hervorheben? Die Armee wird aufgrund übergeord neter politischer Entscheide am Ende noch 15 Prozent des Bestandes von 1994 haben, und wir richten sie konsequent auf moderne Bedrohungen aus, wie bei der CyberDefense (Schutz gegen Hackerattacken, Anm. d. Red.). Nach meinem Amtsantritt 2009 haben wir eine Mängelliste erstellt und uns ans Werk gemacht. Wir gehören heute zu den modernsten Armeen Europas. Für einige altgediente Kämpen sind diese Reformen eine ziemliche Horrorvorstellung. Es wird sicher heftige Diskussionen geben, vielleicht auch ein Referendum. Es braucht mehr Mittel für den Nach richtendienst, einen guten Austausch mit anderen Diensten und Frühwarn systeme. Wichtig sind auch präventive Aktionen. Und es kann schnell gehen. Man erinnere sich an den Mann in Biel, der 2010 während über einer Woche die Polizei in Atem hielt – ein Mann mit Sturmgewehr! Es braucht nicht viel, um die scheinbar so selbstverständliche Sicherheit aus der Bahn zu werfen. Wie war 2014 das Klima im Bundesrat im Vergleich mit den letzten Jahren? Recht gut. Wir kennen uns nun alle mittlerweile und sind gut eingespielt. Die einzelnen Mitglieder verhalten sich berechenbar, eine ideale Grundlage für sachliche Debatten. Macht es Ihnen nichts aus, öfters mal über stimmt zu werden? Diese Frage habe ich mir auch gestellt. Und sehr lange überlegt, ob ich Bundes rat werden will. Ich habe beschlossen, dass ich das ertrage. Also muss ich es ertragen, genau wie meine Kolleginnen und Kollegen auch. Zudem: Längerfris tig hat die Politik, die ich vertrete, Erfolg. Schauen Sie auf die letzten Jahre zurück. Wenn die SVP nicht immer die Werte der NR. 1, 29. DEZEMBER 2014 | MIGROS-MAGAZIN | Schweiz vertreten würde, wäre das Land heute an einem anderen Ort. Apropos Schweizer Werte: Dazu gehören auch die Menschenrechte. Dennoch haben Sie im Bundesrat die Kündigung der Euro päischen Menschenrechtskonvention be antragt ‒ erfolglos. Was haben Sie dagegen? Die Menschenrechtskonvention ist überhaupt kein Problem. Dass ich die Kündigung beantragt haben soll, ist reine Spekulation eines einzelnen Jour nalisten. Fakt aber ist: Wir haben diese Grundsätze bereits ausnahmslos alle auch in unserer Verfassung. Und da stellt sich die Frage, ob man darüber ein frem des Gericht entscheiden lassen will oder ob das nicht ein eigenes Gericht machen sollte. Denn offenbar gibt es erhebliche Diskrepanzen in der Auslegung zwi schen den Gerichten. Viele Bürger stören sich daran, dass es gelegentlich Ent scheide des Menschenrechtsgerichts hofs in Strassburg gibt, die unserem Rechtsempfinden nicht entsprechen. Sie haben also mehr ein Problem mit den fremden Richtern als den Menschenrechten, die dahinter stehen? Es gibt nirgends ein Land, das seinen Bewohnern, Migranten inklusive, mehr Rechte gewährt als die Schweiz. Nir gends! Da müssen wir doch über diese Rechte selbst bestimmen dürfen. Für ein gutnachbarschaftliches Verhältnis braucht es manchmal Absprachen und Ent gegenkommen. Natürlich. Aber wir reden hier von der Interpretation einer Konvention, die 1974 abgeschlossen wurde und damals eine ganz andere Bedeutung hatte als heute. Ab und zu braucht es nach ein paar Jahrzehnten auch Anpassungen an die aktuelle Zeit. Manche unterstellen der SVP, sie wolle – nachdem sie die Schweiz in den letzten 20 Jahren erfolgreich umgekrempelt hat – für den totalen Durchmarsch nun die juristischen Hürden wegräumen, die noch im Weg stehen. Eine Partei allein kann ohne das Volk gar nichts erreichen. Die SVP hat vielleicht 500 000 Wähler. Um eine Volksabstim mung zu gewinnen, braucht man etwa 1,3 Millionen. Wenn es der SVP gelingt, mit gewissen Themen Abstimmungen zu gewinnen, dann weil damit in der Bevölkerung offensichtlich ein Nerv getroffen wird. Das Volk entscheidet und hat meist ein gutes Gespür. Wie eng ist heute derDrahtzu IhrerPartei? Sind Sie als Bundesrat strategisch noch involviert? | MENSCHEN MIGROS-MAGAZIN | NR. 1, 29. DEZEMBER 2014 | Persönlich habe ich nach wie vor gute Kontakte, und ich gehe an Parteiversammlungen und Fraktionssitzungen. Ab und zu tausche ich mich auch sonst mal aus, das ist aber eher schwieriger geworden. Ans Amtsgeheimnis gebunden zu sein, bedeutet auch, dass die Partei einen nicht immer versteht. Das ist eine neue Situation, aber ich verstehe mich halt nicht mehr als Parteisoldat. Und was machen Sie? Früh ins Bett gehen (lacht)! Damit wir am Morgen früh rauskommen. Am 1. Januar ist es nämlich immer am schönsten auf der Skipiste, da hat man freie Bahn. (lacht) Nein, als Parteigeneral! Haben Sie einen Vorsatz für 2015? Macht Ihnen das Regieren eigentlich Spass? Meistens schon, sonst würde ich das nicht machen. Aber klar, ich mache sicher keinen Job, der mir nicht gefällt. Dafür bin ich zu alt. «Das Volk entscheidet und hat meist ein gutes Gespür.» Kürzlich konnte man lesen, dass Sie eigentlich lieber Bauer wären als Bundesrat … Aber einen zweiten Sitz im Bundesrat will die SVP weiterhin, oder? 2015 ist ja ein Wahljahr. Wird die SVP nach dem Taucher 2011 besser abschneiden? Bekommt die SVP diesmal den zweiten Sitz? Ja, ich bin als Bauernsohn aufgewachsen. Und Bauern war für mich immer ein Traumberuf, nur hatte ich leider nie die Gelegenheit dazu. Generell wird es wohl keine grossen Verschiebungen geben. Innerhalb der Rechten und innerhalb der Linken bewegt sich ein bisschen was, aber die Blöcke werden wohl ähnlich gross bleiben. INTERVIEW | 29 ich vermutlich mehr. Und natürlich verbringe ich Zeit mit der Familie. Aber an Silvester wird nicht gross gefeiert, unsere Kinder sind alle erwachsen, ausser der Jüngste. Und der wird lieber mit seinen Kollegen feiern. Haben Sie das je? Sie würden aufhören, wenn es keinen Spass mehr macht? | Ich will die Geschäfte des VBS durchbringen. Und mein Dauervorsatz: mehr Sport. Was wünschen Sie der Schweiz? Friede und Wohlstand. Beides ist nicht selbstverständlich. Man muss stets daran arbeiten, damit es erhalten bleibt. Auf jeden Fall. Die jetzige Situation wird den Wahlergebnissen nicht gerecht. Die gewählten Positionen müssen in der Regierung angemessen repräsentiert sein. Realistisch betrachtet eher nicht. Aber im Moment ist das Kaffeesatzlesen. Wie feiern Sie dieses Jahr Silvester? Kommt aufs Wetter an. Ich hoffe auf viel Schnee, dann kann ich raus. Sonst lese Interview: Ralf Kaminski, Hans Schneeberger Bilder: Ruben Wyttenbach www.migrosmagazin.ch STIMMEN SIE ONLINE AB Reformstau im Wahljahr? Europapolitik, Volksrechte, Umwelt oder Ueli Maurers Militär: Wo herrscht der grösste Bedarf an Lösungsansätzen? Anzeige Teneriffa tearen. u n i M L a s t re n & s p Jet zt p rofitie Madeira Phuket 1 Woche im Pestana Miramar Garden Resort HHHH inkl. Frühstück, z.B. am 24.1.15 1 Woche im Patong Beach Hotel HHHi inkl. Frühstück, z.B. am 19.1.15 ab CHF ab CHF 599.– 899.– 1 Woche im Barcelo Varadero HHH inkl. Frühstück, z.B. am 14.1.15 ab CHF 399.– Gran Canaria Sharm el-Sheikh 1 Woche im Bungalows Cordial Green Golf HHHi ohne Mahlzeiten, z.B. am 11.1.15 1 Woche im Iberotel Club Fanara & Residence HHHH inkl. all inclusive, z.B. am 13.1.15 ab CHF ab CHF 499.– 499.– Hotel und Flug ab Zürich und Basel Jeweils am Mi., Fr., Sa., Mo. Hotel und Flug ab Zürich und Basel Jeweils am So., Mo., Mi., Sa. Hotel und Flug ab Zürich Jeweils am Di. 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Es ist kein guter Auftakt und schon gar keine gute Aussicht: Peter Bichsel hat seine letzte Kolumne geschrieben. In der «Schweizer Illust rierten», beileibe nicht meinem Leib blatt. Aber diese eine Seite, die Seite mit Bichsels monatlicher Kolumne, die hat mir eine ältere Frau vom Bucheggberg stets sorgsam herausgerissen und zu geschickt, meist mit Notizen versehen. Vor vier Wochen, als Bichsel ankündigte, die nächste Geschichte würde seine letzte sein, schrieb sie an den unteren Seitenrand: «Das darf nicht wahr sein!» Leider durfte es, und sollte es Sie befremden, dass ich mich um den Kolumnisten einer anderen Zeitschrift sorge – Bichsel ist nicht irgendeiner. Peter Bichsel ist ein Vorbild. Eine Leit figur. Einer, zu dem alle, die sich an dem Genre versuchen, nur in Demut aufschauen können. Er schrieb nicht irgendwelche Kolumnen, sondern die klügsten und feinsten, die das Land je hatte. In leichten Worten prägte er Sentenzen, die man sich merken wollte, äusserte er Gedanken, auf die man unendlich stolz gewesen wäre, wäre man selber drauf gekommen. Und diese Klarheit! «Ich habe meinen Freund im Spital besucht,es ging ihm sehr schlecht, es war schlimm für mich – jetzt geht es «Er formte Erinnerung zu Geschichten.» ihm besser, mir auch.» Wie sehr viel komplizierter hätte man diese Ge schichte erzählen können! Aber Bichsel machte sich stets die Mühe, zur ein fachen Sprache zu finden, und nichts ist schwieriger als das. «Isch aber ou geng e Souchrampf!», erwiderte er, als ich ihm – wir trafen uns an einem Fussball spiel in Solothurn – mal sagte, wie sehr mir seine Kolumnen gefielen. Das Ende war zu erahnen, denn seit ein, zwei Jahren waren Bichsels Texte beängstigend abschliessend, von Weis heit durchweht und Wehmut. Und ausgerechnet er, der stets betonte, die Wahrheit sei unerzählbar, kam darin dem Leben so nah, den kleinen Dingen, den unscheinbaren Regungen, dem Menschlichen, Menschelnden. Seit er 1964 mit «Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen» erst mals als Schriftststeller auf sich auf merksam machte, formte er seine Erleb nisse zu lebensechten Geschichten, und in letzter Zeit waren es zunehmend die Erinnerungen, die er formte. Zu Sätzen wie: «Brigitte habe ich nie mehr gesehen, das letzte Mal wohl vor fünf undfünfzig Jahren, wir waren fünfzehn und gingen ins gleiche Schulhaus zur Schule.» Sie! Ich habe ihn kürzlich wie der getroffen. Da hatte er seine letzte Kolumne noch nicht geschrieben. Aber er zupfte, als ich danach fragte, zwei Kärtchen aus seinem Ledergilet, auf die er in grosszügiger Schrift Notizen gemacht hatte, und wie er es tat, hatte etwas Schelmisches, beinahe Bübisches. Er warf einen Blick auf die Kärtchen und raunte: «Gseht guet us.» Er freue sich, dass er jetzt dann pensioniert sei, sagte Peter. Und weil er dabei munter wirkte und fast ein wenig erleichtert, will ich es ihm gönnen. Schliesslich wird er in einigen Wochen achtzig. Achtzigjährig! So alt wäre Elvis am 8.Januar geworden. Aber das ist ein blöder Gedanke, der auch nur mir kommen kann. Seis drum, ich werde es mir an dem Tag gemütlich machen, Elvis’ Aufnahmen aus dem SunStudio von 1954 auflegen und ein Buch von Peter Bichsel zur Hand nehmen. «Dezembergeschichten», zum Beispiel. Und ich werde beiden dank bar sein. 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